Abstract

Der Briefwechsel nimmt seinen Ausgangspunkt in unserer gemeinsamen Lehrtätigkeit an der Akademie der Bildenden Künste in München von 2014 bis 2020 und durchkreuzt dabei verschiedene Orte und Zeiten. Die imaginäre Welt von KEC dient als Rahmen um einige Probleme der institutionalisierten künstlerischen Lehre zu überdenken. Der Text spekuliert über das Aktivieren von Recherche durch Performance, zukünftige Ausbildungsmodelle und die Beobachtung von Natur und reflektiert, wie künstlerisch-aktivistische Strategien und der Begriff der Selbstorganisation derzeit von rechten Gruppen vereinnahmt werden. Die Form des Briefes erlaubt das Changieren zwischen tatsächlichem Bericht, fiktionalisierter Perspektive und Polemik.

Lieber Stephan,

während du dich nach Italien abgesetzt hast, habe ich mich Richtung Arktis auf den Weg gemacht und bin in Krabstadt gestrandet. Ich habe spontan zugesagt, dort bei der Entwicklung des Krabstadt Education Center mitzuarbeiten. Es ist angenehm zur Abwechslung mit einer Institution zu arbeiten, die es nicht gibt. Ich könnte sagen „noch nicht“, aber das trifft es nicht. Ob und in welcher Form KEC Studierende, Lehrende, Klassenräume oder Lehrpläne hat, ist nicht nur eine Frage von Zeit und Machbarkeit. Vielmehr haben diese Leerstellen schon jetzt einen Effekt, da vieles von dem, was eine Schule im Allgemeinen ausmacht, hier im Bereich der Erzählung stattfindet und deshalb die Form des Entwurfs selbst ein Eigenleben bekommt. Man könnte einerseits sagen, dass KEC sich in eine mögliche Realität projiziert. Andererseits sind viele der realen Möglichkeiten von institutioneller wie selbstorganisierter Lehre scheinbar besser in der Vorstellung zu ertragen. Doch einen anderen Ort zu imaginieren, kann ja auch erstmal heißen darin geplant steckenzubleiben und zu sehen, wie weit sich die Vorstellung treiben lässt. Virtualität im Sinne einer Möglichkeit – nicht Utopie, nicht Digitalität.

Die gezeichneten und animierten Landschaften, Gebäude und Figuren von Krabstadt bilden durchaus einen materiellen und inhaltlich spezifischen Ausgangspunkt, der nicht beliebig ist. Ich habe dennoch nicht den Eindruck, deshalb als Teil dieser Fiktion agieren zu müssen – zumindest nicht mehr und nicht weniger als an ganz realen Kunsthochschulen mit den ihnen je eigenen Narrativen und Routinen. Mir ist vielmehr aufgefallen, dass die animierten Charaktere eine ungewohnte Perspektive von mir einfordern: Wut, Peinlichkeit, Satire und Übertreibung sind schließlich keine adäquaten Umgangsformen für Seminare und Sitzungen – wenn auch verständliche Affekte, die sich dann zuweilen am Rande der Lehre Bahn brechen oder eben in künstlerischen Arbeiten. Dennoch fragen wir uns nach der Notwendigkeit, so eine Erzählung gerade jetzt anzufangen.

Deshalb wollen wir dich einladen, an dieser Vision beratend mitzustricken, schließlich gibt es Überschneidungen zu deiner Forschung über Künstler*innenkolonien, Freien Universitäten, Akademien und deren gegenwärtigen Versprechen beziehungsweise korporativen Deformationen. Ich musste vor allem an unseren Austausch zu selbstorganisiertem Lernen und die gemeinsamen Seminare an der Münchner Akademie denken, in denen das Spiel, das Rollenspiel, das Aufführen von Recherche oder die Performance-Partys vielleicht auch die Funktion übernommen haben, Affekte zu fiktionalisieren, auszuagieren und greifbar zu machen.

Im Seminar zum Arbeiter*innentheater[1] zum Beispiel war unser Ausgangspunkt deine Beschäftigung mit historischen und gegenwärtigen Formen von Theater in Kunst und Aktivismus – wir haben diese Sektion deiner Bibliothek buchstäblich geplündert. Die Studierenden haben zu verschiedenen Vorläufern recherchiert, etwa Straßentheater, Agitprop, künstlerisches Kabarett, aber auch zeitnössischere Positionen wie das Living Theatre. Wir haben erfahren, wie verschiedene Gruppen von Arbeiter*innen, Laienschauspieler*innen und Künstler*innen theatrale Formen als politisches Werkzeug nutzten. Die Aufgabe war nicht einfach, diese Entdeckungen in Form eines Referats zu teilen, sondern zugleich eine praktische Übung vorzuschlagen und dabei die historischen Referenzen auf die eigenen Ideen, physischen Fähigkeiten und Dynamik der Gruppe anzuwenden. Wir haben jede Session damit angefangen, den Raum umzubauen, Tische und Stühle beiseite zu schieben und Bewegungsübungen zu machen. Das hatte weder den Charakter von morgendlichem Work-out, noch sollten alle Studierende Performance-Fähigkeiten entwickeln und es war manchmal ziemlich mühsam dieses Ritual durchzusetzen. Aber es hat einige Gewohnheiten verschoben wie Theorien und zeitgeschichtliche Zusammenhänge präsentiert und welche Körperhaltungen dabei eingenommen werden, wer viel und wer wenig teilnimmt, wie der Raum benutzt wird, wie die herumstehenden Kunstwerke zu Requisiten werden. Ich habe mich dabei immer eher an konzeptuellen Verfahren orientiert: die Handlungsanweisung (Score), die einen Spielraum markiert, in dem versuchsweise agiert werden kann, und zugleich eine Grenze, die angefochten werden will. Kannst du noch mehr dazu sagen, wie du, gerade vor dem Hintergrund der Malerei, zur performativen Arbeit mit Studierenden gekommen bist?

Liebe Grüße,

Karolin

 

Liebe Karolin,

wie schön von Dir zu hören und dann noch aus dem hohen Norden! Sitzt du nur im Internet oder kannst Du auch manchmal raus und das Eis riechen, die Hunde heulen hören und dir den Wind ins Gesicht schneien lassen?

In Italien ist es auch kalt, der Wind schiebt sich klamm durch die herausgebrochenen Fenster, denn das Haus wird umgebaut. Den Sommer verbrachte ich damit, im Schatten zu sitzen und auf den immer selben Ausblick zu starren, seine täglichen und monatlichen Variationen zu genießen, und seine trügerischen Verdoppelungen im künstlich angelegten Teich, der wie eine Zunge dem gegenüberliegenden Bergmassiv entgegen schnellt. Pünktlich kamen die Schwalben immer. Sie wetteiferten mit gewagten Flugmanövern und stürzten pfeilschnell hinab auf die Teichfläche. Oder die Bienen. Sie hatten das sanft abfallende Ufer als Badeort entdeckt. Als willkommene Unterbrechung ihrer Fronarbeit standen sie bis zu den Waden in der Brandung, rüsselten Wasser aus Rissen im Untergrund. Hier habe ich auch gesehen, wie eine Biene eine Kollegin vorm Ertrinken rettet; sie hat die mit Wasser Verklebte fliegend schiebend ans Ufer bugsiert. Das hat mich echt ergriffen!

Schon jetzt kann ich nur durch diese Folie zurück auf die Akademiezeit blicken. Vergilbt kommen ein paar Bilder zurück, die Aufwärmübungen jeden Montag, wie wir alle im langen Gang einen Staffellauf gemacht haben, der Bunte Abend, den wir binnen 30 Minuten nach Ansage auf die Bühne gestellt haben.[2] Das hatte sich unter anderem aus früheren Workshops zur großflächigen Malerei entwickelt: der Körper betritt das Bild physisch und das Bild kann zum Kleid, zur Rüstung des Körpers werden oder zum Baumaterial einer Installation, in welcher der Körper handelt. Doch was wird da gemalt, gehandelt? Das können nur solche Probleme sein, die sich aufdrängen, die in der eigenen beziehungsweise gruppenspezifischen Reichweite liegen. Die Hintergründe dieser „problems at hands“ wurden gemeinsam recherchiert und auf ihr künstlerisches Potenzial hin untersucht. Man ist in eine Rolle geschlüpft und hat ausprobiert wie sich das „anfühlt“ – ob es zur Identifikation einlädt oder nicht, ob man die Rolle oder auch das Material neu fassen oder vielleicht auch entwerten kann. Das recherchierte Material wurde belebt, man hat es sich performativ angeeignet und auf die Probe gestellt, dadurch, dass es zum Tanzen gebracht wurde. Einer unserer Ausgangspunkte dafür war ein Bericht von Fanny zu Reventlow über einen Künstlerfasching, aber auch andere Bücher haben mit Hilfe der Partys eine frei schwebende Auferstehung und Neuinterpretation bekommen.[3] Aus den improvisierten Beiträgen der Studierenden sind dann bestimmte performative Einheiten entstanden, die bei weiteren Aufführungen immer neu variiert und unterschiedlich miteinander kombiniert werden konnten. Ich frage mich, ob und wie das in einer Welt transarktischer Avatare funktionieren würde?

Bis bald!

Stephan

 

Lieber Stephan,

ich stelle mir vor, wie du in deinem neuen Zuhause deine Bibliothek in die Regale einsortierst – zu Lebensreform, Bohème und Theater, oder hast du neue Kategorien?

Ich hatte hier vor kurzem Eisblumen am Fenster und konnte beobachten, dass das Nordlicht in Krabstadt in einem spektakulären grün-blau aufscheint. Was mir gut gefällt, ist, dass wir in den Pausen lernen, auf Eis zu laufen. Man muss dabei sehr konzentriert sein und das Balancieren lässt uns skurile Posen einnehmen – als Schattenspiel inszeniert, wäre das ein toller Tanz. Aber ja, häufig sitzen wir alle in unseren Zimmern, vor den Bildschirmen, online verbunden, und es macht wenig Unterschied, an welchem Ort wir uns aufhalten. Es gibt verschiedene Überlegungen, wie sich das in Bezug auf KEC denken lässt. Zum Beispiel mit dem No-Gravity Raum der Schule, einem speziellen Ort für Online-Unterricht. Der Raum ist eine kalibrierte Druckkammer und die Bildschirme basieren auf E-Ink-Technologie. Da Licht und Temperatur für Distanzunterricht und ortsübergreifendes Lernen optimiert sind, bekommt niemand Online-Fatigue![4]

Was tatsächlich stattfindet, sind Gespräche mit verschiedenen Personen über ihre Erfahrungen als Lehrende an staatlichen Institutionen. Es geht darin häufig um ökonomische Notwendigkeiten, aber auch um Sichbarkeit und um zu viele Kompromisse. Eine Freundin hat uns geschrieben:

I am not the only one who tends to forget that teaching at an Academy is also just a job. And a lot of people (who are not artists) might not understand why I needed to be reminded of that and I think that’s because they don’t understand how a lot of artists see their artistic work as so closely linked to their life and identity that it is inseparable – so of course many of us approach teaching at an academy the same way. And it is easy enough to say that we should just separate the job and the art practice but that is not easily done in an art world where the academies are a part of the art world and the way you perform as a teacher has an impact on the way you are seen as an artist.[5]

Um herauszufinden, welche Form einer (freien, fiktiven?) Schule derzeit denkbar wäre, muss man scheinbar erst durch einen Berg von Wut, Langweile und Erschöpfung hindurch. Wir haben uns gefragt, ob wir für post-teaching teachers auf dem unbebauten Grundstück neben KEC eine Art Kloster mit Garten gründen sollten!

Zurück zu deinem Brief: Was du beschreibst als Filter, der dich in Distanz rückt zum Alltagsgeschäft von Kunsthochschulen, ist nicht weit entfernt von der Skepsis, die deinen Bezug zur Lehre von Anfang an geprägt haben. Immerhin hast du einen Großteil deiner Zeit der Unterscheidung von institutioneller und selbstorganisierter Akademie gewidmet und wie das eine im anderen vorkommt. In The Hard Way of Enlightenment schreibst du:

Dagegen sehe ich die Akademie

* als einen temporären, improvisierten und selbstorganisierten Kommunikationszu-

sammenhang.

* Akademie ist keine Institution, sondern eine Aktivität: Es geht darum, „Akademie zu machen“!

Dies ist eine Form des möglichst unhierarchischen Austausches mit Gleichgesinnten,

ein Prozess der Selbstermächtigung.

Nachdem ich über die Idee einer selbstorganisierten und außerinstitutionellen Akademie ein Buch herausgegeben und dieses wie ein Wanderprediger angepriesen hatte, wurde mir eine Professur an der Akademie in Bergen / Norwegen angeboten. Hier saß ich nun und überlegte, wozu diese Institution denn zu gebrauchen wäre, weil ja doch alle ihre Akademie selber machen könnten.[6]

Deine Skepsis ist also nicht nur eine Polemik angesichts schwerfälliger und hierarchisch organisierter Institutionen, sondern entspringt der Dringlichkeit, an einem Ort zusammenzukommen. In Universitäten treffen sich ohnehin nicht nur Gleichgesinnte.

Wenn wir hier eine Praxis vorschlagen, Bilder und Texte als künstlerische und pädagogische Werkzeuge zu beleben und neu zu konfigurieren, erschöpft sich das nicht in dem Gefühl von Unmittelbarkeit und Gemeinsamkeit. Ich denke dabei auch an KEC: Der Moment, in dem es die Fiktion verlässt und mit einem Seminar – etwa zur Erfindung einer Welt transarktischer Avatare – einen tatsächlichen pädagogischen Raum betritt, würde auch die Autor*innenschaft geteilt werden.

Du hast häufiger erwähnt, dass du viele der von dir genannten Strategien heute in einem anderen Licht siehst, weil sich die politische Landschaft verändert hat. Kannst du dazu etwas sagen? Braucht nicht gerade die Schwierigkeit, über gelernte Strukturen und diskriminierende oder historisch kontaminierte (Bild-)Sprache zu sprechen, einen Ort? Geht es nicht genau um die Arbeit an Differenzierungen um unreflektierte Wiedergänger überhaupt zu erkennen?

Bestes,

Karolin

 

Liebe Karolin,

in dem Zitat der Freundin klingt die Frage an, wie weit man sich die institutionelle Macht vom Leibe halten kann. Aber diese Macht ist zweierlei: die Macht der Institution und die Zwänge, denen man ausgeliefert ist, aber auch die institutionelle Macht, die du übertragen bekommst – und die du ausüben sollst.

Ein Ausweg daraus ist euer No-Gravity Raum! Wow – das klingt sehr toll! Ich hatte gerade gestern im Buch von Maja Göpel über die Entstehung des Earthrise Fotos gelesen; wie die Astronauten über der Rückseite des Mondes im Orbit schwebten, um die Oberfläche zu fotografieren/kartografieren, und dann sahen sie im Augenwinkel wie die Erde über der Mondoberfläche aufging.[7] Welch schöne Metapher für das Schweben über dem Forschungsgebiet und dem peripheren Blick auf die eigene Herkunft!

Dieser schwerelose Zustand stellte sich teilweise durch die Performance-Partys her. Es entsteht dort ein Schutzraum mit Überdruck, der das Schweben ermöglicht. Diese Partys waren die Löcher in der Skepsis. Letztere ist aber nicht nur ein Misstrauen gegenüber der Institution und der eigenen Rolle darin, sondern auch gegenüber dem Gegenstand der Forschung und den verwendeten Methoden. Wenn ich zum Beispiel an die gemeinsame Recherche mit Studierenden zur historischen Lebensreform-Bewegung denke, dann war das ein höchst problematisches Material.[8] Schon damals war klar, dass viele der von uns recherchierten Themen im Umkreis der Lebensreform auch auf Webseiten rechter Gruppen zu finden sind. Aber ein Schweben über „the dark side of the moon“ und ein relativ unverkrampfter, zugleich kritischer, ironischer, spöttischer Umgang war damals noch möglich. Mittlerweile hat sich die Rechte zunehmend radikalisiert und jetzt sehen wir bei den Coronaprotesten die historische Parallele, nämlich das Zusammengehen von Impfskeptikern, Esoterikern und Anthroposophen mit den Neonazis. Ein leichtfüßiger Umgang mit dem kontaminierten Material wäre zur Zeit nicht mehr möglich.

In vielen Feldern, mit denen ich mich beschäftigt habe, ist eine rechte Aneignung inhaltlicher Motive und Methoden erfolgt. Wer hat denn in den letzten Jahren am effektivsten Selbstorganisation betrieben, wer hat die Straße und die mediale Aufmerksamkeit besetzt, wer hat eine „Gegenöffentlichkeit“ aufgebaut? Vermehrt greifen die Rechten jetzt auch noch der Universität. Vorher waren das die Neoliberalen, jetzt sind es die Kulturkonservativen, die sich gecancelt fühlen, oder die Identitären, die eine „Gegenuni“ gründen.

Bei der Propagierung von Selbstorganisation war es ein Fehler, angenommen zu haben, das sei irgendwie antihierarchisch, antiinstitutionell und deswegen per se „links“. Und jetzt sitzt man lieber mit der Hierarchie und der Institution in einem Boot, weil die Rechten, die Esoterik, die Religion, die Lüge und die Irrationalität eine so toxische Mischung eingegangen sind. Die fachlich Versierten, die Spezialisten sind jetzt diejenigen, denen ich am liebsten folge. Leider resultiert aus dem Dilemma auch ein Vertrauensverlust in künstlerische Methoden – was bleibt ist Didaktik und Aufklärung. Was vorher als selbstverständlich (und zu kritisieren!) galt, wie Rationalität, Demokratie, Wahrheit etc., muss nun verteidigt werden.

Wie kann man dort, wo früher einmal die radikale Linke gestanden hat, heute (im Lehren/Lernen) eine eventuell andere, aber dezidierte Position aufbauen? Wie macht ihr das in Krabstadt?

Stephan

Stephan Dillemuth, The Pleasures of Now, 2016, Galerie Hussenot, Paris (c) Aurelien Mole
Karolin Meunier, Im Gewand, 2014/21, © Karolin Meunier

Lieber Stephan

die derzeit sich zuspitzende Ausgangslage hast du gut zusammenfasst. Bei der Wahl der künstlerisch-aktivistischen Mittel und Strategien zu differenzieren, wird tatsächlich komplizierter, wenn diese sich quer durch die politischen Lager ähnlicher werden, obwohl sie inhaltlich maximal voneinander entfernt sein wollen. Diese gesellschaftlichen Konfliktlinien werden an den Kunsthochschulen auch im Umgang miteinander getestet und ausagiert.

Um nochmal zurückzukommen zu einer anderen Perspektive: Es gibt ja auch noch das Selbstverständnis der Studierenden beziehungsweise die Frage nach der jüngeren Generation als dem unbekannten Faktor in allen pädagogischen Modellen. Eigentlich überraschen sie mich oder sind längst einen Schritt weiter, wenn sie sagen, wann es der Didaktik und Aufklärung an Lebendigkeit und Möglichkeiten der Gestaltung fehlt, wann über sie und nicht mit ihnen gesprochen wird. Entsprechend nehmen ihre Interventionen in die Routinen Akademie und der Lehrenden verschiedene Formen nehmen: von konfrontativen Diskussionen, über das Ausreizen der Grenze der frei-schwebenden Recherchezeit, bis zum gemeinsamen Verfassen des Curriculums (von KEC) in der Rolle einer animierten Figur. Bleibt also die Frage, wie sich in der Lehre durch die künstlerische Auseinandersetzung am konkreten Material, durch einen spielerischen, präzisen, ergebnisoffenen, angreifbaren – und nicht ideologischen – Umgang „ohne passive Zuschauer“ doch ein Unterschied machen lässt.

Was mir zu deiner Frage einfällt, kann ich nur als Gast beantworten: Krabstadt bezeichnet sich ja als Ort der Unerwünschten, an dem sich die komplizierten, lästigen oder auch neurotischen Charaktere und Probleme treffen, die die skandinavischen Länder lieber loswerden würden. Man kommt hier also nicht umhin, die bisweilen bizarren Auswirkungen dieses Ausschlussmechanismus zu beobachten. Wer sind diese Unerwünschten? Und würden sie KEC besuchen, sind das die Studierenden, Lehrenden, Hausleute und Werkstattleiter*innen? Was kann man von deren Perspektive lernen oder was erwartet man lehren zu können? Ich könnte spekulieren, dass Krabstadt sich nicht auf eine Mehrheit stützen kann und will – solange diese Mehrheit sich gute Absichten in ihre Curricula schreibt, die sich in der Praxis nicht einlösen. Die Direktorin von KEC hat es ziemlich deutlich gesagt: „The systemic failures of Nordic institutions to walk the walk and not just talk in regards to diversity, difference and inclusion has led me to refocus our efforts to assemble the most non-humanly diverse teaching body in the history of the Nordic region. At KEC, we actively recruit nature, both flora and fauna, to teach and study.“[9] Aber das läuft natürlich nicht immer sofort rund. Vielleicht erinnerst du dich an Arrabbiata, Krabstadts Vulkan und Protagonistin aus dem Spiel. Sie ist arbeitet bei KEC und auch das musste sie sich erkämpfen:

Annoyingly, I soon found out that we (the broadly recruited) were treated differently from the human participants and were not offered an adequate study environment. Firstly, they gave me a studio space that was too small for me to fit into, I couldn’t even get through the doorway. Secondly, teachers and other students kept wanting to teach ON me and not WITH or FOR me, which was really perturbing. So, I officially filed a complaint with the Dean, who actually listened to what I had to say. They offered me an adjunct position as part of my anger management treatment but I saw through that smoke-screen! Instead, I made them give me an honorary professorship.[10]

Die Frage, welche Expert*innen überhaupt an den Tisch eingeladen werden, erübrigt sich also auch heute nicht. Wer kommt aus verschiedenen, marginalisierten oder verstreuten und dadurch spezifischen Kontexten zusammen?

Karolin

 

Liebe Karolin

es hat mir gefallen, wie du Krabstadt als Ort der Unerwünschten beschrieben hast. Das erinnert mich an Erich Mühsam, den Münchner Anarchisten, der den kommunistischen Ansatz im Hauptquartier der Lebensreformer auf dem Monte Verita anfangs zwar schätzte, resümierend aber meinte, einen solchen idyllischen Ort sollte man nicht den bürgerlichen Esoterikern, Heilssuchern und Apokalyptikern überlassen, sondern eher umwidmen:

… wünsche ich in tiefster Seele, Ascona möchte einmal ein Zufluchtsort werden für entlassene oder entwichene Strafgefangene, für verfolgte Heimatlose, für all diejenigen, die als Opfer der bestehenden Zustände gehetzt, gemartert, steuerlos treiben und die doch die Sehnsucht noch nicht eingebüßt haben, unter Menschen, die sie als menschenwürdig achten, menschenwürdig zu leben.[11]

Mit dem Unterwasserausbruch von Hunga Tonga-Hunga Ha‘apai ist auch der Fall Arrabbiata ganz aktuell! Auch deswegen, weil wir oft nicht wissen können, wo die Präferenzen einer Vulkan-Person liegen, beziehungweise wie sie sich verschieben, wenn sie mit der Institution zusammentreffen. Ich habe zum Beispiel manchmal bei neuen Kolleg*innen gesehen, wie sie ganz schnell jede Distanz zur Institution aufgegeben haben und im Handumdrehn ein Rädchen davon geworden sind. Im Falle Vulkanin hätte ich erst einmal angenommen, sie bräuchte kein eigenes Zímmer und fühlt sich im Garten des KEC – ohne ein institutionelles Dach überm Krater – vielleicht am Wohlsten. Kann sie doch dort Feuer und Lava speien, wie ihr beliebt. Aber jetzt will sie ein Zimmer für ihre Lehre? Well well…

Ich will noch ein Gedankenexperiment zu eurem Ansatz beitragen. Ich war vor 15 Jahren in Magdeburg, eine Stadt, die ich noch nicht kannte. Ein großer Teil der Gebäude und Geschäfte stand leer, wie etwa in Berlin ca. 1990, nach dem Fall der Mauer. Und überall waren Schilder, die kreative Belegung anheischten und oft ein Jahr mietfrei offerierten. Warum also zieht die internationale Bohème weiter ins mittlerweile tot-gentrifizierte Berlin, wenn’s gar nicht so weit weg davon so viele neue Möglichkeiten gab?

So entstand bei mir die Idee einer „Ersten kommunistischen Kunstakademie in Deutschland“. Die Hinzunahme des Wortes „kommunistisch“ hätte viele Vorteile: zum einen die dezidierte Abgrenzung gegen die staatliche Kunstakademie, die Abschreckung aller Christkonservativen und darüberhinaus Rechten. Die höflichen Langweiler wären wohl ebenfalls verprellt und die Schöngeister, mit ihrer Formel, Kunst sollte nicht ‚politisch‘, stattdessen aber ‚frei‘ sein.

Durch die Namenswahl wäre diese Akademie die Verpflichtung eingegangen, eine längst fällige Diskussion zu führen, die sich an der Zukunft ausrichtet – denn einen Kommunismus hat es bisher nicht gegeben, nur eine Suche danach gibt (und gab) es – allem voran mit der Frage, was das im Jahrtausend der Ressourcenverknappung, der Klimakatastrophe, der Hyperindividuation, der Genderdiversity denn sein kann (oder muss). Die Frage nach einer neuen Gesellschaft müsste dementsprechend ebenfalls eine neue Kunst hervorbringen; das wäre keine neue Kunstrichtung, sondern eine prinzipielle, völlig neue Rolle der Kunst in der Gesellschaft. Allerdings hätte es eine derartige „kommunistische“ Akademie aufgrund ihrer grundsätzlichen Fragestellungen sehr schwer, sie würde angefeindet werden, sie hätte kein Geld. Dennoch!

Was gelehrt werden würde? Es ginge um eine gelebte Sharing Economy, in Hand- und Hausarbeit, im Theoretischen wie im Praktischen. Es ginge um die Verlebendigung eines sozialen Organismus und die praktischen Versuche, welche Rolle die Kunst in einem solchen haben könnte. Diese experimentelle Gesellschaft hätte in meinem Gedankenexperiment wohl leider erst einmal nur als Insel existiert. Das ist schade und doppelt schwierig; umgeben vom aktuellen Kapitalismus sind ähnlich gelagerten Fälle jeweils gescheitert, doch rückblickend waren dies meist gute Schulen und Durchlauferhitzer.

Als staatlich alimentierter Kassenwart eines Bitcoin-Streichelzoos wird mir das Wort „Kommunismus“ sicher um die Ohren geschlagen werden. Ich habe die Idee nie weiter elaboriert oder aufgeschrieben. Denn so eine Akademie kann man nicht als einzelner gründen, als Einzelner kann man keinen Kommunismus machen. Am Besten würde so eine Lernkommune von Studierenden selbst gegründet. Sie können die Ressourcen ihres bisherigen Wissens kurzschließen, ihr Lernen wird sich an den Notwendigkeiten entlang selbst entwickeln. Hin und wieder können sie temporäre Lehrer wie Gäste einladen… Als es nach dem 2008er Börsen-Crash eng wurde, hat das jemand so formuliert: Man solle sich nun seinen Freundeskreis neu zusammenstellen und zwar so, dass alle unterschiedliche, aber überlebensnotwendige Fähigkeiten mitbringen. Das wäre ein Neubeginn – auch für die Kunst.

Stephan

 

Footnotes

  1. „Arbeiter*innentheater“, ein Seminar von Stephan Dillemuth und Karolin Meunier, realisiert mit einer Gruppe von Studierenden im Studiengang Kunstpädagogik an der Akademie der Bildenden Künste München, 2016-17.
  2. Der „Staffellauf“ ist ein Wettbewerb zwischen zwei Gruppen von je acht Personen, die beide den 200 Meter langen Gang in der Akademie hin und zurück laufen. Dabei geben sie einen Stab (in diesem Falle einen Pinsel) von Läufer zu Läuferin weiter. Der „Bunte Abend“ ist eine Art Revue mit unterschiedlichen Beiträgen und in seinem improvisierten Charakter von Methoden des Arbeitertheater beeinflusst.
  3. Um hier einige der relevanten Titel zu nennen: Fanny Gräfin zu Reventlow, Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil; William Shakespeare, Der Sturm; Peter Linebaugh, Marcus Rediker, Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks; Sylvia Federici, Caliban And The Witch; Norman Cohn, Das neue irdische Paradies. Revolutionärer Millenarismus und mystischer Anarchismus im mittelalterlichen Europa; Peter Weiss, Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade sowie einzelne Szenen aus Filmen von Rainer Werner Fassbinder und Science-Fiction Literatur. 
  4. Siehe „Report From A Student“. In: Krabstadt Education Center: Conflated Places, Learning Pretzel. Jakarta Biennale 2021: ESOK, p. 5. Verfügbar auf: https://qr1.be/TMKL (Abruf am 09.05.2022).
  5. Henriette Heise in einem privaten Email-Austausch mit KEC.
  6. Stephan Dillemuth, Der arge Weg zur Erkenntnis. Dramatisierung eines Vortrags über „The Academy and the Corporate Public“ – In zwei Teilen, Berlin 2012. S. 10
  7. Maja Göpel, Unsere Welt neu denken, Eine Einladung, Berlin 2020
  8. Um die Jahrhundertwende (1900) bildeten sich eine Reihe von Gruppierungen, die sich unter dem Begriff Lebensreform zusammenfassen lassen. Diese teils utopischen, revolutionären, reaktionären und reformistischen Ansätze kennzeichneten die unterschiedlichsten Versuche, sich aus dem damaligen Kaiserreich, dem nationalistischen, kapitalistischen und monolithischen Wilhelminischen Reich herauszulösen. Angesichts der Entwicklung von „Multitudes“ paralleler Lebensentwürfe waren die Lebensreformbewegungen sicherlich Vorläufer der heutigen „eskapistischen“ Identitätskonstruktionen, die sich über Lebensentwürfe und Lifestyles herausbilden. Einige dieser Ansätze verliehen dem aufkommenden Nationalsozialismus seinerzeit jedoch eine „metaphysische Tiefe“. Andere Gruppen dagegen wurden im Dritten Reich verfolgt, absorbiert oder gleichgeschaltet, was wiederum eine weitere monolithische Homogenität erzeugte. Stephan Dillemuth Recherche zu dieser Thematik wurde im Rahmen seiner Gastprofessur an der HFBK Hamburg 2003-05 mit Studierenden weitergeführt. Aus der Zusammenarbeit entstanden u.a. ein Theaterstück und ein Film. Die Recherche ist archiviert unter http://lebensreform.info/ (Abruf am 09.05.2022).
  9. „Greeting from the Dean“. In Krabstadt Education Center, S. 10
  10. „Introducing Fairly New Faculty – Volcano’s Statement“. In: Krabstadt Education Center, S. 14
  11. Erich Mühsam, Ascona – eine Broschüre, Ausgabe 2, Berlin 1972, S. 58